Krieg deformiert alles, was er sich aneignen kann, die Landschaften und Orte, Familien und Individuen, Körper und Seelen. Von einer ihm eigenen Deformation der Moral und des von ihr geleiteten Tuns han-delt dieser Roman.
Zuerst ist der namenlose Scharfschütze auf seinem Posten ganz bei sich und seinem Atmen. Dann, nach Auslösung des Schusses, ist er kurz bei seinem Ziel, dem anvisierten Opfer. In der vorliegend geschilderten Handlung ist er Teil einer militärischen Einheit, einsam in seinem Versteck auf dem Dach eines Gebäudes, das ihm gute Übersicht verschafft.
Dieser namenlose junge Mann bekommt als Ich-Erzähler im Laufe der Lektüre seiner Reflektionen ein Gesicht, dessen Züge und Mimik aber fremd bleiben.
Ebenso wenig gelingt es, die Örtlichkeit der plastisch geschilderten Handlungen geografisch zu lokalisieren. Es könnte sich um eine hüglige Küstenlandschaft am Mittelmeer handeln, wo der Schütze auftragsgemäß sowie mit sportlichem Elan und ästhetischer Hingabe seiner besonderen Begabung freien Lauf lassen kann, dem ausgesuchten Töten von Mitmenschen, sämtlich ahnungslos und ihm völlig unbekannt, ohne jegliche moralische Skrupel des Schützen.
Er ist ein Krieger, hier Kämpfer genannt. Einmal am Tag will er seinem Ehrgeiz mit einem perfekten Schuss, möglichst in den Kopf seiner Zielperson, genügen. Mehr muss es nicht sein. Er nimmt den von der Frontlinie zu Fuß heimkehrenden feindlichen Soldaten ins Visier, das sehr weit entfernt im Auto wartende Kind, die aus der Haustür tretende Frau etc. und optimiert an ihnen seine mörderische Perfektion in einer Art Selbstbefriedigung. Zur Not tut es auch der hoch am blauen Himmel über ihm segelnde Falke. Bei seinen Kameraden in der Truppe genießt er dafür Hochachtung. Sie fürchten ihn geradezu wegen dieser Kunst.
Er verbreitet Angst. Der hochwertige tägliche Treffer wird ihm im Laufe der Perfektionierung zur sanften Droge, gesteht er sich ein. Und trotzdem gibt es in seiner bürgerlichen Existenz auch soziale Bindungen zur in Wahn und Demenz vegetierenden Mutter, mehr noch zu deren jugendlichen Pflegerin. Die diesbezügliche Ambivalenz des Soldaten verstört geradezu beim Lesen. In den gelegentlichen Einsätzen an der Front nimmt er an der Folterung Gefangener aktiv teil bis zu ihrem Tod. Er schreitet bei der Vergewaltigung einer Flüchtlingsfrau durch seinen Kameraden ein. Er erschießt einen Mitkämpfer, da ihn dessen Verwundung beim Rückzug gefährlich behindern würde. Zudem möchte er ihn nicht in die Hände des auskundschaftenden Feindes fallen lassen. Ein ähnliches Vorgehen zieht er auch zur Lösung von zivilen und familiären Problemen in Betracht, führt es aber dann doch nicht aus.
Seine obsessive Liebe zur jungen Hausgenossin kann er nicht in gegenseitige Hingabe umsetzen, sie endet
in der Katastrophe. Die Freundschaft zum mitkämpfenden Kameraden an seiner Seite zerschellt an des-
sen offener Brutalität. Dass der Krieg ihn zum Soziopathen geformt hat, erkennt man bald bei der Lektüre. Seine fiktiven Zukunftspläne dürften sich so erledigt haben.
Der Autor Mathias Enard hat diesen seinen Erstlingsroman bereits 2003 mit großem Erfolg in Frankreich publiziert. Es ist kein Antikriegsroman im herkömmlichen Sinne. Aber er ist in Anbetracht des laufenden irrsinnigen Krieges im Osten Europas hochaktuell. Wahrscheinlich kam er deshalb nach hervorragender Übersetzung ins Deutsche jetzt in unseren Buchhandel. Die Sprache des Autors ist beeindruckend ausdrucksstark und klar. Trotz des unsäglichen, offensichtlich gut recherchierten Stoffes liest sich das Buch flüssig mit Erzeugung einer gewissen abartigen Spannung. Es könnten allerdings nach dem Lesen des beeindruckenden Romans Druckstellen im Kopf zurückbleiben.
F.T.A. Erle, Magdeburg (Juli 2023)
Cover: Verlag